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Klangverschwindung - eine Wehmut

Der Künstler wählt seinen Gegenstand und wird genauso gut von seinem Gegenstand gewählt. Im gewissen Sinn ist die Kunst eine Auflehnung gegen das Flüchtige und Unvollendete der Welt: der Künstler will also nichts anderes, als der Wirklichkeit eine veränderte Gestalt geben, während er gleichzeitig gezwungen ist, diese Wirklichkeit beizubehalten, weil sie die Quelle seines Empfindens darstellt. … er ist unfähig, die Wirklichkeit zu leugnen, und doch stets dazu getrieben, sie in ihrem ewig unvollendeten Aspekt anzugreifen.

(Albert Camus)

 

 

 

Abgesehen davon, dass meine bisherige Lebenszeit ziemlich genau diese hier anzublickenden 50 Jahre umspannt … warum feiern wir nicht 13 oder 17 oder elf oder neun? Als Musiker bin ich sehr an Zahlen interessiert und 50 oder 60 ist relativ unspektakulär. 800 – ja! Oder zweitausend, da muss man dann wenigstens nicht mehr mit viel Pomp vortäuschen, sich erinnern zu können (Erzengel im Kampf mit dem ewigen Satan der Sinnbeladenheit).

 

Stille – den „Text“ quasi auflösen, kleine Zustandssteinchen aus dem Text herauslösen, ihn jedenfalls weiter anhalten. So entstehen Wirbel und Weggabelungen oder gar: weg vom Weg! Welcher Weg? Welche Richtung, welcher Stil, welche der vielen musikalischen Wahrheiten, die wir stolz im letzten halben Jahrhundert verkündet und manchmal auch verkündigt haben? Aber muss nicht der „Künstler“ Wahrheiten proklamieren, um sie im nächsten poetischen Taumel schon wieder vergessen zu haben? Erinnern?? Verfälschen!! Entstellen! Verzerren, verdrehen, täuschen, sich selbst täuschen und so Neues finden.

 

Kunst als Bewusstseinserweiterung – nicht bequeme Schatzkiste für Kuratoren und wohlig rückstrahlende Projektionsfläche für andere Eitelkeiten. Schwierig – oder besser: Eigenartig auch, die „Erinnerung“ in diesen Zeiten weltweiten Vernetztseins an einen sicher schönen, aber kleinen Staat zu ketten, wo doch die Folgen schon damals globalisiert wurden (und seit damals österreichisch verdrängt werden). Abgesehen davon werden Kunstströmungen eher selten von stolzen Nationalismen geprägt und wenn, dann war das immer Auflehnung gegenüber einer politischen (Besatzungs-)Macht. Eher Umgekehrtes gäbe es zu berichten: In jedem Theater in Deutschland, das ich betreten habe, bin ich spätestens nach 5 Minuten über einen anderen exportierten Österreicher gestolpert. Ist das ein gutes Zeichen (weil wir dort so gefragt sind)? Ist das ein schlechtes Zeichen (weil wir hier so wenig gefragt sind)?

 

Rückblende: Mit meinem Bruder hinter der Wiener Staatsoper … die übrigens in ihrem offiziellen Feierkalender „Tage der modernen und zeitgenössischen Oper“ offeriert. Dabei wurde übersehen (oder vielleicht auch nicht!), dass jeder Einzelne der zeitgenössischen (also lebenden) Komponisten der angebotenen 5 Opern schon längst auf irgendeinem außerösterreichischen Friedhof begraben ist! Hinter dieser Staatsoper also auf der Kärntnerstraße debattierend, ob ich oder nicht, in einer vom elektrischen Schaltkreis längst umgestalteten Welt mir so ein Zauberkastl namens Atari für meine zukünftige Arbeit anschaffen, ob ich mich tatsächlich den Bits und beißenden Zahlen ausliefern sollte, um dann – nach positiver Entscheidung und ersten bescheidenen Schritten (natürlich in fremdländischen Studios) mit großer Bestürzung feststellen zu müssen, dass die Welt, die musikalische, die außerhalb Österreichs, längst ins Reich der unbegrenzten Klänge des digitalen Zeitalters weitergezogen war. Wenn mich meine Erinnerung (fatales Wort, noch dazu anlässlich dieser Feiern) – wenn mich also meine Erinnerung (fast schon so ein Unwort wie Heimat, Volk etc. oder wird uns das grade wieder untergejubelt) – wenn diese Erinnerung (wieso kommt 60 Jahre Befreiung eines Lagers, dessen Namen ich nicht auszusprechen wage, nicht auf der Feierliste vor, dafür aber irgendwieviele Jahre ORF? Ach so, nur Österreich! Aber doch auch Österreicherinnen und Österreicher!! Egal ob in Griechenland oder Polen) … wenn mich die Erinnerung (wie mühsam es offensichtlich ist, sich dieser anzunähern) nicht täuscht, war das im utopischen Nineteen Eighty-Four („… wenn auch nicht rasch genug, als dass nicht zugleich mit ihm ein Wirbel griesigen Staubs eingedrungen wäre“).

 

50 (Sie sehen, ich bemühe mich) könnte auch fast die Zahl der Medien sein, die ich in der Folge wechselnd austauschen musste, um mit neuester Technologie Schritt zu halten, die im Geschwindigkeitsrausch ihres Erfindungsreichtums so manches neue Mittel nur zum alten Zweck verwendet (ich spreche von der Musik). Allerdings vermute ich, dass das Tempo zu allen Zeiten in Relation zum jeweiligen Wissensstand immer sensationell schnell war. Herausgefordert angetrieben provoziert gereizt aufgeregt bedrängt aufgefordert, mit diesen Technologien, von denen ich ja enorm profitiere, Partituren, Töne, Klänge – Kompositionen in immer neuer Form zu erfinden und den scheinbar nichtflüchtigen Teil davon festzuhalten, im atemlosen Wechsel von Bleistift zu Rotring zu Tonband zu Cassettenband zu Floppydisk zu Optischer Disk zu DATBand zu ZIP zu Wechselharddisk zu CompactDisk zu DVD zu Gigabyteharddisk (dabei will ich nicht langweilen mit den hier nicht aufgezählten raffinierten Zwischenstufen). Brechen erste Lichtstrahlen einer sich noch immer rasant weiterentwickelnden Revolution des Musikschaffens, nämlich die des computergestützten Schreibens und Produzierens, langsam durch die Nebel der Vergangenheit?

 

Zaudernd und lau lösen wir in den letzten 50 Jahren ein, was Claude Debussy schon vor fast hundert Jahren eingefordert hat: „Man hört nicht auf die tausend Geräusche der Natur um sich herum, man lauscht zuwenig auf die so vielfältige Musik, die uns die Natur überreich anbietet. Sie umfängt uns, und wir haben bis jetzt in ihr gelebt, ohne ihrer gewahr zu werden.“ Lieber übertragen wir ein altes Cembalo, das alte Musik spielt, in Dolby Surround (und das ist noch die harmlose Variante von drogengleich missbrauchter neuer Technologie) … nicht von ungefähr feiern wir mit der wiedererlangten Souveränität gleich noch das Jubiläum des größten Bilderwerfers, der ja angeblich uns allen souverän gehört und uns täglich mit Souveränem beglückt! Wieso sitzt dann die unabhängige ORF-Spitze bei jeder nur irgendwie mit Staatsmacht zu tun habenden Veranstaltung souverän spätestens zwei Sessel weiter rechts ebenjener? Man muss nur genau hinschaun – auch wenn es oft schwer fällt – meist entlarven sich die Bilder selbst!  … Mit dem visionären Wort aber vom wahren Surroundsound wirft Debussy dem wahrscheinlich seit Guido von Arezzo mehr oder weniger gepflegten Halbtonsystem – das ist nun auch fast wirkliche tausend Jahre her – den Fehdehandschuh in die Oktave und verleiht mit diesem Einwand allen anderen musikalischen Parametern die Wichtigkeit der bisher fast alleine vorrangigen Tonhöhe; theoretisch. Plötzlich werden zu Beginn des letzten Jahrhunderts neue Faktoren wie Rhythmus (Stravinsky) und vor allem Klangfarbe (Varèse) gegen das vorherrschende kontrapunktische, melodiehafte Denken ausgetauscht. Dieses Verschieben von Prioritäten innerhalb der musikalischen Parameter, dieser Fortsprung von jahrhundertelang entwickelten und gepflegten Hierarchien stellt uns nicht nur vor eine neue Problematik der Schrift. Das alte Ton(höhen)system und die damit verbundenen Instrumente und Formen verlieren an Bedeutung und die – nach jahrzehntelangen Experimenten – vor mehr oder weniger 50 Jahren endlich konkret auftauchenden Möglichkeiten elektronischer Erfindung, Aufzeichnung und Manipulation von Klang scheinen dem von Debussy aufgerissenen Universum das neu benötigte Werkzeug anzubieten.

 

Heute versetzt uns die digitale Technologie in die Lage, jede Art von Schwingung als Nullen und Einsen zu kodifizieren und im keimfreien Raum von Zahlenreihen zu speichern. Die vollkommen freie Variation dieser Zahlenreihen respektive gar die Erfindung fiktiver Codes ermöglicht uns, das Universum des Klanges nanosekundenweise zu beherrschen oder bescheidener: zumindest eine ungeahnte Kontrolle darüber auszuüben. Natur wird überblendet von Fiktion, die wenigstens für die Dauer des Aufenthaltes in ihr den Status von Realität annehmen soll: Virtualität erhebt in der Musik immer Anspruch auf Realität.

 

Vom Denken zum Klingen: Natürlich ist die Zahl in der Musik von grundlegender Bedeutung (oder: Die Zahl ist die Natur der Musik!). Die scheintote Mathematik der seriellen Musik (wieder sind wir: vor 50 Jahren …) erwacht mit heutiger Technologie zu neuen gestisch (= direkt, intuitiv) kontrollierbaren Möglichkeiten. Farbverläufe, sei es durch Instrumentationswechsel, sei es durch direktes Formen der Oszillatorkurven, Raumbewegungen, Geschwindigkeits- und Lautstärkemanipulationen, all das und vieles dem laienhaften Auge im musikalischen Kosmos Verborgene kann heute in Echtzeit mit einfachen Handbewegungen gezeichnet, geformt, verwandelt werden; wobei ich mich ins laienhafte Auge miteinbeziehe, angesichts der Fülle an Überraschungen, die ich in den letzten Jahren bei meinen Reisen durch den Klang erleben konnte. Das Entwerfen strenger Beziehungen aller musikalischen Parameter, derer wir bis dato habhaft werden konnten und die wir nach mühsam entworfenen Formeln kaum kennen zu lernen die Zeit hatten – die Mathematiker mögen uns Musikern verzeihen, was wir an einfachen Handlungsanordnungen schon als Formel definieren wollen –, weitet sich aus aufs Sonnengeflecht und nimmt dieses mit ins formale Denken, um so zu neuen Freiheiten zu gelangen. Oder?

 

Durch Infotainment, TV-Krimi, Werbespots und Videoclips ist einerseits die Geschwindigkeit und Klarheit einer Story auf maximalen „Speed“ gebracht, andrerseits die Mischung und Vermengung aller Stilzitate perfektioniert und zugleich endgültig ad absurdum geführt worden. Sex and Crime, Natur- und Wissenschaftsdokumentation werden uns mit immer perfekteren Großaufnahmen, schnelleren Verfolgungsjagden, größeren Explosionen, raffinierteren Überraschungen in der „Erzählung“ während des Abendessens (eine Parallele zur Oper) vorgesetzt. Die „Suspense“ wird nur vom Genie des Werbespots unterbrochen, das weiß, wie wenig Zeit bleibt, Sehnsüchte  und Gefühle zu wecken, von fernen Ländern und verlockenden Früchten (jeder Art) zu erzählen. In buchstäblich zwei Atemzügen wird eine komplette 30 Sek.-Oper kreiert.

 

Vielleicht eröffnet die Verzauberung der funktionalen Stille zwischen den Klängen, wo eine magisch angehaltene Zeit herrscht, die Möglichkeit, eine „andere“ Virtuosität zu entwickeln und einen komplementären Standpunkt einzunehmen. Durch wiederholtes Innehalten wird Zeit aus allen Dimensionen akkumuliert (nicht verloren – was immer das heißt): Viele Episoden werden zum Sternhaufen der Jetzt-Pluralität. Die Potenz der Musik, Zeit aus den verschiedensten Aspekten mit variantenreichen Methoden betrachten zu können (zum Unterschied des jubelnden Event-Patriotismus) und das auch oft noch gleichzeitig, versetzt uns in einen geheimnisvollen, „übergeordneten“ Zustand. Wie eine Andy Warhol Siebdruckserie, nur zugleich, in einem – so können wir ein Thema, ein Motiv durch verschiedene Farben und Zeiten katapultieren, mit unterschiedlich schnellen Abläufen und widersprüchlichen Konturen versehen und alle einzelnen Musikmoleküle so zu immer neu sich konfigurierenden Kontratänzen formen.

 

Die Ureinwohner Amerikas kennen in ihrer Sprache weder Zukunft noch Vergangenheit: Ein Faktum, das mich immer mit großer Faszination erfüllt hat, weil es als Grundhaltung ein konzentriertes Jetzt manifestiert, eine Weltsicht, die man auch im Buddhismus wiederfindet. Durch die Aufforderung: Carpe diem! verraten die Europäer schon wieder ihre intellektuelle Verzettelung. Die Sonatenhauptsatzform (von der ersten Wiener Schule entwickelt, ist etliches mehr als 50 Jahre her) zeigt uns in genialer Form, wie sich Zeit zum Punkt schließen kann und überflügelt damit die Mathematik, die ja nur theoretisch von Null Ausdehnung fabuliert: Beim Eintritt der Reprise, bei der Wiederholung des also in der Exposition dargestellten empfinde ich immer, in ein schwarzes Loch zu fallen, einen Moment der vollkommenen Zeitlosigkeit zu bewohnen – ich empfinde das als Privileg! Nun versucht uns die Astronomie nahe zu bringen, dass es sich dabei um durch Implosion erreichte, unwahrscheinliche Konzentration von Materie oder Energie handelt. Analog dazu bildet die Materialverarbeitung in der Durchführung (so heißt der Mittelteil in der Sonatenhauptsatzform) die Voraussetzung, dass die Reprise als Auslöser der Implosion von Zeit funktioniert.

 

Welche rätselhaften Mächte sind im Spiel, wenn sich die lineare Zeit eines geheimnisvollen Akkordes zur übergeordneten „Energie“ türmt, deren Dauer in uns unendlich wird? Und zwar – unendlich lang oder unendlich kurz! Dieses Phänomen einer raffinierten Zeitmaschine scheint mir ein wesentlicher Faktor in der Musik zu sein, nicht nur der der letzten 50 Jahre. Aber sicher ist ein wesentlicher Schritt vorwärts passiert (nebenbei: welche Richtung ist „vorwärts“?), seitdem wir die Computertomographie in der Musik anwenden (viel früher übrigens, als am Menschen).

 

Wir haben seit den späten 50er Jahren technologisch raffinierte Methoden erfunden (nicht wirklich in Österreich, wenn ich mich recht erinnere), mit Ton-Ort, Ton-Zeit, Klangfarbe und vielen anderen Parametern zu spielen – was ich nach dem Studium von meinem weiterblickenden Lehrer getrieben, staunend in Übersee kennen lernte. Der neu geprägte Begriff „Worldmusic“ wird sich nicht in der fälschlichen Betrachtung exotischer Folklore erschöpfen. Wie eine Vorbereitung auf einen gemeinsamen Stil wird uns die Zeit des Zitierens im Postmodernismus erscheinen: Gleich einem Netzwerk stehen alle auf der Welt vorhandenen rhythmischen, harmonischen, melodischen und sonstigen, für europäische Ohren begrifflich noch nicht (oder nicht mehr) festzuschreibenden Argumente zur Verfügung und es gibt sicher keinen „Vorrang der deutschen Musik“ (aber das war ja lang vor dem Staatsvertrag).

„Wir müssen lernen, mit der Pluralität der Zeiten, der Räume, mit Vielheiten, mit Unterschieden zu leben.“ (Luigi Nono)

 

Auf der einen Seite zeigt uns (nicht nur) die Werbung, wie raffiniert man durch gezieltes Ein- und Ausblenden bestimmte Codes in die Erinnerung schreiben kann. Umso wichtiger ist es mir, konträr dazu ein Freifeld zu konstruieren, in das die Benutzer nach eigenem Willen einsteigen oder eben nicht respektive die Möglichkeit haben, jederzeit einen Abbruch der Auseinandersetzung veranlassen zu können, was ihnen ja auch erst die Sicherheit verleiht, sich auf wirklich gefährliches Terrain zu begeben, da sie wissen, dass sie immer die Kontrolle behalten – wenn sie wollen. Andererseits zeigt uns die pseudodemokratische Tendenz zu immer mehr Volksabstimmungen (wann werden wir aufgerufen, über die Qualität des im Parlament verwendeten Klopapiers mitzuentscheiden), dass durch (falsche) Verlagerung von Entscheidungsprozessen mehr zerstört als gewonnen wird, oder anders ausgedrückt: die uns gewährte, genauest zugemessene Energie falsch fokussiert wird.

 

Abgesehen davon, hätten Sie Lust, mehr über die letzten 50 Jahre Musik zu erfahren? (Aber wie kann man denn naiv und abgehoben über Kunst quatschen und vergessen, dass alles in einem Kontext stattfindet, in einem heutigen Kontext …) Ein Vorschlag: Lesen Sie doch z. B. Hannes Böhringer „Orgel und Container“ oder Fred K. Prieberg „Musica ex machina“ oder John Cage „Für die Vögel“ oder Joel Chadabe „Electric Sound“ oder Shin Nakagawa „Klänge des Kosmos“ oder Jaques Attali „Bruits: essai sur l’économie politique de la musique“ (ich hab’s auf Englisch: „Noise: The Political Economy of Music“) oder den wunderbaren Aufsatz von Michael Harenberg „Virtuelle Instrumente zwischen Simulation und (De)Konstruktion“ im Sammelband „Soundcultures“ (Hg. von Marcus S. Kleiner und Achim Szepanski) oder Dane Rudhyar „Die Magie der Töne“ oder … oder Rüdiger Liedtke: „Die Vertreibung der Stille“ … so wissen Sie besser und mehr, was ich hier nur kläglich in ein paar verzerrend-verfälschende Zeilen packen könnte. Außerdem ist ja die Entwicklung der Musik in den letzten 50 Jahren nicht als rein österreichisches Phänomen zu erfassen, Kunstströmungen halten wenig von Heimatdienst und das wirkliche Jetzt multipliziert mit einem, sagen wir mal: schwerpunktmäßig präsentierten Damals kann nur ein fiktives Heute ergeben, das wieder nur der manipulierenden Klasse zugute kommt. „Der Geschichtscontainer sammelt die Reste dessen ein, was die Gegenwart hinter sich gelassen hat, und musealisiert sie. Geschichte, Philosophie und Theologie werden vom Kunstcontainer geschluckt und durch Ästhetisierung entleert. Die Kunst wiederum landet im Behälter der neuen Medien. Aus Fiktion wird Simulation. Der Gegenbegriff der Wirklichkeit geht verloren.“ Eigentlich könnte dieses Zitat von Hannes Böhringer meinen gesamten Aufsatz ersetzen.

 

Bleiben wir bei der Musik: Nicht zuletzt auf Grund heutiger Technologie tendieren alle Regeln und „Reihen“ – nicht nur die sich in Halb- und Ganztönen bewegenden Tonleitern, sondern u. a. auch die „Chromatik“ (chromos = Farbe) der Instrumentation und viele andere musikalischen Denk- und Konstruktionsansätze – zu einer in sich verschmolzenen Skala: Es herrscht totales Kontinuum. Aber spätestens die Genforschung zeigt uns, dass es in der Natur keine Gleichheit gibt. Alle Einheiten funktionieren auf der Grundlage einer Differenzierung der Funktionen. Auch in der modernen Welt gilt: Gleichheit ist höchstens ein Ideal, keine Tatsache. Sie wird im Gegenteil als Vorspiegelung benutzt, um die auf immer „höherer“ und exklusiverer Ebene stattfindenden Entscheidungsprozesse als demokratische Ereignisse zu travestieren. Diesem Vermummungsprozess entgegenzuwirken braucht die heute so trügerisch totale Material- und Formverfügbarkeit strenge „Spielregeln“ zur noch klareren Kontrolle, um aus dem nichtssagenden Grauwert aller Möglichkeiten eine definierte und somit erfahrbare Gestalt erstehen zu lassen (bewusst verwechsle ich Politik mit Kunst).

 

„Die Zukunft wiegt nur 99 Gramm!“ Mit dieser (zweischneidigen) Schlagzeile wirbt eine Firma im Jahr 2000 für die neueste Entwicklung am Markt elektronischer Musikinstrumente – dem Gewicht der CD-ROM, auf der die Programmcodes des neuesten virtuellen Computerinstruments gespeichert sind: Mittels Computer ist es uns seit fast 30 Jahren möglich (seit einigen wenigen Jahren mit einer bescheidenen Investition auch am Laptop zu Hause), den jeweiligen genetischen Code eines klanglichen Phänomens zu analysieren, festzustellen und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Staunend lernen wir über die „Verhaltensweisen“ des jeweiligen Klanges in verschiedenen Situationen: Laut, leise, hoch, tief, lang, kurz, scharf, hell, rau, glatt etc. Durch Präzisierung der hervorstechendsten Eigenschaften, oder zumindest derer, die unsere Aufmerksamkeit aus dem einen oder anderen (un)vorhersehbaren Grund fesseln, gelingt es, übergeordnete Klang-Schemata zu entwickeln. Ausschlaggebend dafür sind solch unwägbare Erinnerungspakete wie: der eigene kulturelle Hintergrund, die momentane Aufmerksamkeitsschwelle, die verkrusteten Präferenzen, mit einer Software – die von sich aus bestimmte klangliche Konsequenzen birgt – lieber zu arbeiten, als mit einer anderen. Die solcherart mühsam aus einer noch anonymen Zukunft zusammengeklaubten Ursachen für den alchemistischen Prozess einer Ideen-Metamorphose werden anhand der „Reaktionen“ der Klänge nachjustiert oder verworfen. So lange, bis das Aufeinandertreffen der verschiedenen, inzwischen zu Konglomeraten angewachsenen Klangkombinationen graduell voraussehbar (erinnerlich!) ist und – in eine zeitliche Abfolge gebracht – plötzlich zu ersten Ansätzen eines formalen Ablaufes werden kann. Das heißt, dass wir aus der dem Klange latent innewohnenden Energie langsam und manchmal mit großer Überraschung den gesamten Ablauf des Stückes „logisch“ konstruieren können – vielmehr: Eigentlich ist er in der Urgestalt des vor uns liegenden Klanges perfekt vorhanden und nur unsere imperfekte Interpretation lässt uns an der Formgebung noch zweifeln. Vielleicht herrscht auf Grund der oben erwähnten totalen Kontinuität doch Zaudern, in dieser – allen verfügbaren – Fülle eine eindeutige Gestalt überhaupt noch bestimmen zu können (auch das – das Zaudern, das Zögern, das Ausprobieren, das Verwerfen und Neuformulieren scheint ein Vorrecht der Kunst zu sein oder warum sonst werden uns „im täglichen“ Leben zum flotten Stopfen der Erinnerungslücken einfache Wirklichkeiten vorgespiegelt?).

 

Einflechtung einer kleinen Geschichte: Mein Lehrer Roman Haubenstock-Ramati hört im Paris der fünfziger Jahre im Studio von Pierre Schaeffer (dem ersten seiner Art), zugleich erstaunt und verzaubert, den Klang eines um einige Oktaven abwärts transponierten Instrumentes, der ihm ein bis dahin im wahrsten Sinne unerhörtes Universum neuer Klänge eröffnet und ihn treibt, mit neuen Notationstechniken die Limits der Spieltechnik herkömmlicher Instrumente – und damit deren klangliche Ausbeute – zu erhöhen. Das zeigt uns wieder ein anderes typisches Phänomen der letzten 50 Jahre: Die Beeinflussung der Instrumentalmusik durch die neue, elektronische Klangwelt. Die orchestrale Phantasie und Instrumentationskunst wurden sicherlich auf Fährten gebracht, die sie ohne das Aroma der elektronischen Musik nicht erspürt hätten – und vice versa, wie man wohl hinzufügen muss. Heute ist dieser Impakt, den eine simple Transposition auf einen Komponisten haben konnte, schwer nachzuvollziehen. Inzwischen benutzen wir in einer enorm gesteigerten Präzision und Vielfalt eine Art von Cross-over: Konkrete Klänge, um mit Hilfe der aus ihnen deduzierten Daten (Lautstärke oder Tonhöhe) das Verhalten synthetisch produzierter Klänge zu steuern und umgekehrt, das Verhalten konkreter Klänge durch synthetisch generierte Muster zu erweitern. Nach einer rasanten Evolution, die ganze Studios in die Laptops unserer Komponisten kondensiert, können wir heute jeden beliebigen Klang (oft auf Knopfdruck) realisieren – oft genug, muss man enttäuschterweise hinzufügen, sind es auch tatsächlich nur beliebige Klänge. Mit der fortschreitenden Computerisierung im Instrumentenbau (= potentere Instrumente bei zugleich fallenden Preisen) setzt eine Welle der Demokratisierung in der Verwendung des elektronischen Mediums ein. Die komplexesten Instrumente werden als Sonderangebote in Supermärkten für Musikinstrumente via Internet verschleudert und bieten so – endlich unabhängig von großen Institutionen – Zugriff zu bester Technologie für alle. So weit die gute Nachricht. Das zeitigt natürlich ähnliche Irrtümer wie im Bereich der Printmedien: Der Besitz einer Desktop Publishing Software versetzt den p. t. User noch lange nicht in die Lage, ohne zusätzliches Können bezüglich Schriftgrade, Umbruch etc. ein Buch auch in erträglicher Weise zu gestalten. Die Schwemme von augenbeleidigenden Publikationen findet leider eine Analogie in der Musik. Da sind wir auch wieder mitten drin in den letzten 50 Jahren: Wie viel Sünden (in einem so katholischen Land muss auch dieses Wort fallen) sind im Namen des Fortschritts begangen, wie viel im Grunde einfach zu pfeifende Melodien (warum denn nicht?) auf Plastikkeyboards gemordet worden und als avantgardistisch sich Gebärdendes wiederauferstanden, nur um auch eine(r) mit dem Laptop zu sein … Innovation vortäuschend und dabei doch nur die von einer gut funktionierenden Musikindustrie zigtausendfach ausgegebenen Programme kaum variierend abzuspulen. „Wie erhält man Geschmack und künstlerische Maßstäbe aufrecht, wenn man professionelle Kunst durch Umwelt vulgarisieren kann?“ (Marshall McLuhan) Mea culpa, auch dieser Müllberg ist kaum noch in den Griff zu kriegen. Die Demokratisierung der Mittel entblößt sich mittlerweile immer häufiger zur schäbig grinsenden Dämonenfratze: Ich auch, ich aber schneller, ich vor allem lauter (oder ist es die Domain-Fratze, die uns täglich erinnert, noch mehr nutzlose Information in unsere Rechner zu spülen?).

 

Kleist: „Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Doch so wie das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein.“

 

Mit der Ineinssetzung von Klang und Virtualität in den digitalen Produktions- und Kompositionsmedien ist die Musik zum Punkt der creatio ex nihilo gelangt. Was mit der Errichtung von Konzertsälen im romantischen Zeitalter begonnen wurde, nämlich die Destruktion natürlicher Räume zugunsten der Sehnsucht nach der oder vielmehr Notwendigkeit für die Existenz künstlicher „Schall-Räume“, findet seine letzte Ausformulierung in den neuen digitalen Medien, die sich wie auf einer exponentiellen Kurve emporgeschleudert, just in den letzten 50 Jahren zu ungeahnten Potentialen entwickelt haben. Immer neue Variationen fiktiver Spielräume entstehen kraft dezentralisierter Effizienz von Netzwerken aus reaktiven (oder gar interaktiven) Kontrollen wie Wind, Licht, Bewegung, Singen, Kopfnicken (längst haben wir die sicheren Zebrastreifen der Klaviatur verlassen) und komponieren nun mit in ihrer Komplexität nur mehr intuitiv steuerbaren Rechenalgorithmen („Ameisenaktivität“) – ähnlich einem vielstimmigen Kontrapunkt, dessen Verlauf auch nur durch waches Ahnen gelenkt worden war. Findet sich in diesen Möglichkeiten, die die letzten Jahre in der Musik gekennzeichnet haben, eine neue Lösung in der Erschaffung künstlicher Realitäten für das Bangen um authentisches Sein im Lärm und Betrug und Abklatsch und materiellen Wachstumswahnsinn dieser Welt? Wer wagte noch die große Form, längst im Staccato von „Welt“-Nachrichten, Soap-Opera, hitzigen Börsenkursen, witzigsten Werbespots zu Krümeln verrieben? Alles gerät ins Rutschen: Von der Konzeption (wer schreibt noch für Orchester?) bis zur Aufführungspraxis (welche Bedeutung messen wir herkömmlichen Konzertpodien noch bei?) wird durch neue Möglichkeiten der Begriff Musik mit all seinen gesellschaftlichen Implikationen weiter gefasst werden müssen.

 

Diese oben erwähnte Schöpfung aus dem Nichts wird zum Akt der Autogenese, der Selbstzeugung als vielleicht verzweifelter Versuch des Kleist’schen Durchgangs durch das Unendliche.

 

Was das alles mit Österreich zu tun hat? Alles und nichts. Der Künstler lebt in seinem nicht selbstgewählten inneren Exil und wartet geduckt den nächsten Erinnerungstsunami ab. Natürlich hat die Leistung der Vorväter und -mütter diesen Rückzug in die gefährlich gemütliche Ruhestellung erst ermöglicht und polstert leider auch zugleich die bis in ein Jenseits zu reichen scheinenden Erinnerungsstellwände mit überdimensionalen Wattebauschen, in denen auch dieser kleine Befreiungsversuch ertrinken wird. Kurz dürfen dann diese mit Charme und Witz verbrämten Sätze auch an die Öffentlichkeit. „Hier wird Österreich dargestellt, mit all seinen Verwerfungen“ (der Staatssekretär – ach ja, Minister haben wir für die Kunst natürlich keinen im Kunstland, dafür einen für Schi-Abfahrten). Aber schnell verdrängt von Aussprüchen, wie: „… die Ehre, dabei sein zu dürfen, wo das Herz Österreichs schlägt.“ Die Rede ist nicht von einem Studienplatz bei z. B. Zeilinger oder dem Posten des Finanzministers, nein: Man schwärmt vom Opernball … und die Rede kommt vom stromlinienförmig gewinnenden Doppelsilberolympioniken (hat sich das Ministerium schon ausgezahlt).

 

Das ganze Jubeljahr missbraucht als Erneuerungssystem – ja eigentlich wovon weshalb wohin? Es ist auch ein typisches Problem eines zeitgenössischen Künstlers (um das Erinnerungsproblem von seiner leider längerfristigen Gültigkeit zu beleuchten) – in Österreich speziell eines irgendwie mit der Musik Verbandelten – sich durch die großen Stellwände der Erinnerungsplakate arbeiten zu müssen, eingequetscht zu sein im ewigen Durdreiklang des seligen Walzervergessens und Symphonierens.

Wann wird die Aktivität: Erinnerung endlich von der Aktivität: Kreation verdrängt werden? Im Moment scheint es ja eher die umgekehrte Tendenz zu sein – offizielles Regierungszitat: „Österreich wird weltweit als ‚Kulturnation‘ wahrgenommen. Aufführungen klassischer Musik in Österreich wird in internationalen Meinungsumfragen generell eine höhere Kompetenz zugesprochen als Aufführungen in allen anderen Staaten der Welt. In China ist die Bekanntheit Mozarts höher als die jedes anderen Künstlers. In St. Petersburg und in Havanna stehen Denkmäler von Johann Strauss. Bestimmt Kultur die österreichische Identität?“

 

Abgesehen davon, dass ich mich fragen muss, was das mit den letzten 50 Jahren zu tun hat (außer dass viel Geld in das Perpetuieren alter Glanzstücke – ich gebe zu, teils wirklicher Glanzstücke – gesteckt wurde). Die Schlussfolgerung daraus kann ja nur sein, dass wir uns eine „Kulturmuseumsnation“-Identität zulegen; wo sind denn à propos die findigen Kulturmanager, die eine dritte Wiener Schule rund um Cerha, Ligeti und Haubenstock-Ramati propagieren (die beiden Letzteren damals vor rund 50 Jahren von einer noch offeneren Gesellschaft eben in Wien aufgenommen, Zug’reiste wie weiland Mahler oder Beethoven)? Jene Generation, die in den späten 50ern durch notationstechnische und formale Geniestreiche im Humus eines Schönberg und vor allem Weberns (der zweiten Wiener Schule) zur Weltgeltung wuchsen.

 

Abgesehen von all diesen Lustigkeiten, deren Liste – wäre ich Bernhardisch veranlagt – ausuferndst zu ergänzen möglich wäre, also abgesehen davon:

 

Werden wir doch endlich gewahr!!

„Die Kunst hat nicht die Funktion, fossilienähnliche Rückstände und Versteinerungen hervorzubringen; sie muß sich mit hoher Geschwindigkeit und Guerillataktik in neuen Handlungssphären bewegen … neue Modelle von Zeit- und Raumkapseln schaffen, in denen der Mensch trotz seiner eigenen phantastischen Erfindungen überleben kann.“ (Marshall McLuhan)

 

Wie immer auf der Suche … im Fort/Schritt (The Unknown); kaum erinnernd, Ihr.

 

P. S.: Unsere Hörzellen reagieren bereits auf Reize, die zehnmillionenmal geringer sind als die beim Berühren! „Musik zuzuhören bedeutet, allen Geräuschen zuhören, wenn man begriffen hat, dass deren Verwendung und Kontrolle eine Widerspiegelung von Macht sind und daher vom Grunde auf politisch“ (Jaques Attali).

 

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