Memory Modules oder
Oper nach Postmoderne.
Zur Konzeption von „Wieso verschwindet
Mozart auf der Reise nach Prag?“
Der Stand der Dinge
Durch Infotainment, TV-Krimi, Werbespots und Videoclips ist einerseits die Geschwindigkeit und Klarheit einer Story auf maximalen „Speed” gebracht, andrerseits die Vermengung aller Stilzitate bis zur allgemeinen Stillosigkeit perfektioniert worden. Sex and Crime, Natur- und Wissenschaftsdokumentationen werden uns mit immer perfekteren Großaufnahmen, schnelleren Verfolgungsjagden, größeren Explosionen, raffinierteren Überraschungen in der „Erzählung” während des Abendessens (eine Parallele zur Oper) vorgesetzt. Die „suspence” wird nur vom Genie des Werbespots unterbrochen, das weiß, wie wenig Zeit bleibt, Sehnsüchte und Gefühle zu wecken, von fernen Ländern und verlockenden Früchten (jeder Art) zu erzählen. In buchstäblich zwei Atemzügen wird ein komplettes 30”- Drama kreiert.
Sicher kann eine Schauspiel- oder Opernbühne nie mit der Rasanz des Filmschnitts (beliebige Zeiten und Orte) erzählen und auch nicht mit noch mehr Bühnenzügen und Scheinwerfern, Neben- Unter- und Hinterbühnen die visuelle Üppigkeit einer virtuellen (daher unendlich komplex gestaltbaren) Videoclipumgebung inszenieren.
Die Verzauberung
Jedoch gibt uns Mörikes Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag”, in der viel Stille und magisch angehaltene Zeit herrscht, die Möglichkeit, eine „andere” Virtuosität zu entwickeln und einen komplementären Standpunkt einzunehmen.
Im Zusammenhang mit der Bühne zeigt uns das Tristan-Motiv in großer Meisterschaft, wie die Kunstform „Musik” eine Form der Zeit ist: Diesselbe Musik existiert gleichzeitig punktförmig (als Akkord) und als Sukzession (aufgelöst in lineare [Melodie] Motive), erscheint flüchtig oder behäbig, laut-leise, grell-gedämpft, etc.
Die Potenz der Musik, Zeit aus den verschiedensten Aspekten mit variantenreichen Methoden betrachten zu können und das auch oft noch gleichzeitig, versetzt uns in einen geheimnisvollen, „übergeordneten” Zustand. Dieses Zeit-Spiel reflektiert sich bei Tristan auch in der Erzählform der Geschichte (oder: beide bedingen einander wechselseitig): Die „Happenings” der Erzählung treten an den äußeren Rand (d.h. jeweiligen Aktschluß) und werden nur als Vorwand benutzt, die Imagination einer inneren Situation zu manifestieren - Requisiten und Aktionen werden als Vorwand für die psychische Innenwelt eingesetzt.
„Die Nacht ist der unendliche Innenraum des Weltgemütes”.
Trotz der auffallenden 3 Tristan-Stunden in linearer Zeit entsteht der Eindruck einer übergeordneten „Energie”, deren Dauer in uns unendlich wird. Und zwar - unendlich lang oder unendlich kurz!
Dieses Phänomen einer raffinierten Zeitmaschine müssen wir benützen, um die Dramaturgie der „TV-Oper” (siehe erster Absatz) zu vermeiden und eine gültige eigenständige wiederzufinden! (Das mündet in die Schwierigkeit, Musiktheater in eine fürs Fernsehen gültige Übertragungsform zu bringen.)
Zellpathologie
Inzwischen schreiben wir 1996 und haben technologisch raffiniertere Methoden, mit Tonort, Ton-Zeit, Klangfarbe und vielen anderen Parametern zu spielen. Der neu geprägte Begriff „Worldmusic” wird sich nicht in der Betrachtung der sich dabei verfälschenden exotischen Folklore erschöpfen (wobei sich die Frage stellt, wer heute der Exote ist). Wie die Vorbereitung auf einen gemeinsamen Stil wird uns die Zeit des Zitierens im Postmodernismus erscheinen: Gleich einem Netzwerk stehen alle auf der Welt vorhandenen rhythmischen, harmonischen, melodischen und sonstigen, für europäische Ohren begrifflich noch nicht (oder nicht mehr) festzuschreibenden Argumente zur Verfügung und verweist den „Vorrang der deutschen Musik” endgültig auf die hinteren Ränge. „Wir müssen lernen, mit der Pluralität der Zeiten, der Räume, mit Vielheiten, mit Unterschieden zu leben.” (Luigi Nono)
Musik sei „figurazione delle cose invisibili” (Leonardo da Vinci)
Bei „Tristan” zum ersten Mal auf die Spitze getrieben, bei „Prometeo” konsequent weiter die Bühne in die Musik hineingetragen (die Oper wandelt sich endgültig vom „dramma per musica” in eine „tragedia dell’ascolto”), lernen wir der evokativen Kraft der Musik und davon abgeleitet den magischen Zeremonien auf der Bühne zu vertrauen und durch der Musik „Bewegung” unsere Geschichte zu transportieren. „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die Exteriorisierung einer äußersten Interiorisierung. Das ist heute das Entscheidende.” (Luigi Nono) Memory Module Versuchen wir nun, Mörike’s „Mozart auf der Reise nach Prag” unseren Forderungen anzugleichen, heißt das, kleine Zustandssteinchen aus dem Text zu lösen, den Text noch weiter anzuhalten – quasi aufzulösen. Jeder Teil dieses Puzzles hat nun eine bestimmte Größe, Farbe, Gewicht (Wichtigkeit, Intensität) und die so gewonnenen Einzelteile des Mosaiks werden „neutral” als memory modules in einer Memorybank abgelegt. Die Einteilung dieser „Bibliothek” wird mehrere Klassen umfassen: Rein musikalische, textliche, szenische (von Licht über Aktion bis zu Requisiten), respektive deren verschiedene Kombinationen. Jedes Memory-Modul erfreut sich einer ganz bestimmten Gestaltung, die einerseits sehr divers sein kann, andrerseits immer unter dem Aspekt einer möglichen späteren Zusammenführung mit einem anderen gesehen werden muß. Nach einem Zeitplan, der vielleicht erst in Zusammenarbeit mit dem Regisseur erfolgt, werden einzelne oder mehrere Module ergänzend zur übriggebliebenen linearen Erzählung in immer neuen Kombinationen abgerufen, umkreisen dabei die „Handlung” gleich unberechenbaren Kometen und Sternschnuppen – werden gar selbst „Handlung”. Ihre Dichte, ihre jeweilige Konstellation beleuchtet, ja erleuchtet den inneren Ablauf des Abends. Da es kleine, auf ein späteres „Zusammenleben” hin entworfene Formeinheiten sind, bleibt zwar der collageartige Charakter (wer wagt noch die große Form!), aber das Zitathafte verschwindet und eine wirkliche Fusion zur ephemerischen Großform eines mehrdimensionalen Mobiles tritt ein. „Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich auflöst, dies wirkt, und es bewirkt sowohl die Empfindung der Auflösung als auch die Erinnerung des Aufgelösten.” (Hölderlin) Durch die verschiedenen Intervalle, in denen die einzelnen Memory-Module erscheinen und der daraus resultierenden Polyrhythmie der „azione teatrale”, kreieren wir gleichzeitig verschiedene Geschwindigkeiten der Zeitreise, auf der sich der Zuhörer befindet. Anything that we can have as an experience is subject to interaction (A.G.E. Blake) Durch die Spiegelung oder besser: Reflexion der einzelnen memory modules auf ein oder mehrere andere entstehen Synapsen des Erkennens, die sich am Ende des Stückes zu einem Netzwerk der Empfindungen schließen.