"Wahrheiten ereignen sich von selbst"
Profitieren wir von der Perspektive:
Zeit ist relativ. Je weiter wir wegrücken (wir glauben irrtümlich: … vorrücken), desto gedrängter, scheinbarer und scheinbar solider wird unser Empfinden. Zwanzig Jahre schmelzen zu einer einzigen Empfindung ein. Das dies natürlich wieder nur eine verzerrte Erkenntnis sein kann, zeigt uns dann später ein Blick von wieder einem anderen Punkt auf dieser vielleicht kreis- im besten Fall spiralförmig verlaufenden Zeitachse: Alles dreht sich, wird uminterpretiert, erfährt eine neue Perspektive.
Warum ich so metaphorisch bin?
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Meine Voreingenommenheit und Arroganz des Spätgeborenen gegenüber Fluxus und Konsorten schmilzt wie Schnee in der Sommersonne, als ich Wolf Vostell’s "LE CRI" 22 Jahre nach dessen Entstehung lausche; FluxusConcert vom 31/10/90, Berlin!
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Aufgefordert, einen Artikel über seine Musik zu schreiben, muss ich erst einmal meine völlige Unkenntnis darüber eingestehen, da ich Wolf Vostell hauptsächlich als „Maler, Bildhauer und Happeningkünstler“, wie das Wikipedia auf den ungenauen Punkt bringt, im Hinterkopf habe. Im Hinterkopf. Genau das ist der Punkt, entgegnet mein Gegenüber, niemand oder fast niemand kennt sie, seine Musik, nicht mal hinterm Kopf und drückt mir die CD mit „LE CRI“ in die Hand.
Sofort bin ich verführt, mich exemplarisch auf dieses Musikstück im Gegensatz zu den früheren Werken (z.b. San Diego Autobahn) zu konzentrieren. Als Folge seiner unglaublichen Musikalität? Finden wir in den frühen Werken mehr Haltung als Ausdruck? Da stolpere ich unweigerlich: Ist nicht jede Kunst zuerst Haltung und der Ausdruck ergibt sich dann „wie von selbst“?
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Meine Sehnsucht – erwachsen im aufkeimenden Computermusikzeitalter – galt immer genauer Programmierbarkeit, ausgefeilten und hochkomplexen (Ver)Schaltungen und feingliedrigen Partituren. Das hat nichts mit dem 'absurden Alptraum einer rationalistisch und explizit in allen Aspekten durchkonstruierten Musik' zu tun (Trevor Wishart), vielmehr dem Auslegen von höchst raffinierten Labyrinthen mit Wegweisern und auch Fallen, die in der Interpretation dann zur klingenden Bescherung werden. Ein ziemlicher Gegenpol zur scheinbaren Zufälligkeit der Fluxus-Gesten.
Ein weiterer Hemmschuh für mich: Keine mir zugänglichen schriftliche Aufzeichnungen der Musik, eine knappe Seite einer Partitur im schlechtesten Faksimile müssen mir vom audiovisuellen Zeitalter Verwöhnten genügen, um Einblick in die Methodik seiner Kommunikation zu den Musikern zu gewähren. Ein Blick!
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Auch meine Zunft ist inzwischen von bunten Spektralbildern, Klänge begleitenden Amplitudenkurven und anderen visuellen Begleiterscheinungen verwöhnt und abgelenkt. Plötzlich nur aufs Ohr reduziert? Der Hemmschuh wird durch den Satz meines Lehrers Roman Haubenstock-Ramati, der zufällig in meinen Gedanken auftaucht, zum kräftigen Schwungrad: „Die Partitur zu einem neuen Stück sollte frühestens ein Jahr nach dessen Uraufführung zugänglich gemacht werden“. Hören, spüren, denken, fühlen, wieder hören und wieder hören. Warum wenden wir uns von unserem feinst ausgebildeten Sinnesorgan so ab und haben verlernt, einfach hinzuhören? Athanasius Kircher wird nachgesagt, dass er beim Spaziergang vor den Toren Roms bei geschlossenen Augen nur durch hören feststellen konnte, ob die Felder gemäht waren oder nicht. Das war im 17. Jhdt.. Ist es die inzwischen rasant fort-geschrittene Verlärmung der Welt, die das Liftfahren, den Supermarkt- und Restaurantbesuch durch die entstellenden Dauerschönheits-OPs und Fettabsaugungen an der Musik fast verunmöglicht? Haben das die Happenings der Fluxuskünstler nicht vorweg geahnt in ihren unter diesem Aspekt gar nicht mehr so absurd erscheinenden Aktionen? Trotzdem gelingt es erst jetzt, sich von der hochdramatischen Fluxusbühne, die ihre akustischen Inhalte ganz überschattet hat, nicht mehr blenden zu lassen und unbefangener, sowie vorbehaltsloser hinzuhören.
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Gegen ein Missverständnis: Ich bin ein großer Bewunderer von Nam Jun Paik und seinen musikalisch-theatralischen Geniestreichen … "action with violin on a string" bis hin zum "Solo for Violin", wo die hocherhobene Monstranz der Klassik final zerschmettert wird. Ein Muss für jeden akademisch ausgebildeten Komponisten. Aber eben. Die Gestik, die Inszenierung, die dramatischen (oder gar nicht so..) Wendungen, das Theater, der Hohlspiegel, all das steht hier im Vordergrund. Musik wird aus einem ganz anderen Blickwinkel beleuchtet.
Profitieren wir von der Perspektive und knüpfen neue Zusammenhänge!
Ein Besuch im Hamburger Bahnhof / Berlin und zufällig erspähte Ausschnitte aus Videodokumentationen – laut C.G. Jung ist Zufall: Ordnung außerhalb der Kausalität – : Beuys am Klavier, Paik hinter dem Klavier, Beuys spielt Brahms, Paik einen Wecker. Das Ticken des Weckers gegen oder für das musikalische Zeitmaß? Kaum schwenkt die Kamera auf Paik, verbirgt er die Ursache seines Taktschlagens unter seinem Sakko, wie schon ca. 10 Jahre früher von Pierre Schaeffer gefordert: Mit dem Pythagoras zugeschriebenem Ausdruck „akusmatisch“ soll die Klangquelle für den Zuhörer unsichtbar gemacht und durch die so erreichte Abstraktion auf den musikalischen Gehalt oder gar: neue musikalische Sprache aufmerksam gemacht werden. Paik verwandelt den banalen Wecker in ein mysteriöses Musikinstrument. Eine andere Nähe zur musique concrète ergibt sich aus der Ferne: Im gleichen Museum höre ich Beuys „JaJaJaJaJa NeeNeeNeeNeeNee“ aus dem Jahre 1968. Gezirkelte 1 Stunde 4 Minuten und 53 Sekunden werden als Dauer angegeben (ist hier wieder C.G. Jung im Spiel?). Hat er Pierre Henry’s „Variations pour une porte et un soupir“ gekannt? Wieder bin ich versucht, die „Musik“ dem Franzosen zuzuweisen. Die Idee, ein Türknarren und menschliches Seufzen in kurz geschnittenen Gegenblenden zu einem fast symphonischen Klangereignis zu stilisieren, verführt zu oberflächlichem Hinhören, weil schneller (Klang)Genuß. Dabei sollte jeder Komponist heute das Beuyssche Band genau anhören: Klanglich vielleicht nicht so reich – aber was bedeutet denn heute noch Klang? Auf den spektralen Gehalt reduzierter Terminus Technicus? Ist es nicht dringende Notwendigkeit, im Zeitalter der unbegrenzt errechenbaren Klänge sich wieder ihrer Semantik anzunehmen, statt blind die vierundvierzigtausendste Schattierung von „Bösendorfer-Blau“ zu pinseln? Führen das nicht die Gewiefteren unter der Spezies DJ der akademischen Welt längst vor, wie aus „objets trouveés“, alten, banalen Klängen mit einiger Begabung wunderbar neu Verknüpftes entstehen kann?
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Der Mitte des vorigen Jahrhunderts so wichtig gewordene Parameter Klang schon wieder schwächelnd? Auch da eine Lektion von „LE CRI“; Vostell hämmert auf seinem Amboss rohe, fast unbearbeitet scheinende Klänge (wieviel Mühe für Musiker, diesen Schein zu suggerieren!) zu neuen Legierungen, die multidimensional zu „lesen“ sind: Eine Farbengrammatik, aus der plötzlich neue Wörter und Satzfetzen herausschießen. Kurz zurück zu Beuys: Was ist heute Liedkomposition? Ist das noch eine erlaubte Frage? Die Antwort bei Beuys 1968 nachhören: Sein Ausdruck ist von feinsten Tonhöhenadern und rhythmisch-dynamischen Verflechtungen aufs raffinierteste durchzogen und – wer hören kann – mit Ansätzen zu Arien so dicht beseelt und weit in unsere Zukunft weisend. Auf wieviel Spuren, Wege, Abzweigungen und Umwege führt uns Wolf Vostell.
Kann denn Fluxus sinnlich sein?
Schwer zu beurteilen, wie bei „LE CRI“ die Vermischung mit dem Szenischen eine Ablenkung von der direkten Einfachheit, die eine geradezu kindliche Ergriffenheit ausstrahlt und deren konzentriertes Repetieren und sich dabei minimalistisch wandeln – schon Toscanini hat gefordert, dass kein Ton zweimal gleich erklingen darf, sondern immer um Nuancen gewandelt ertönen soll – eine Musik hervorbringt, die alle Provokation verloren und umgekehrt proportional an Ausdrucksstärke dazugewonnen hat; nicht zuletzt, weil der inzwischen weniger verstellte „Blick“, das freiere Ohr, bereit ist, in archaischere Regionen von Schall vorzudringen.
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Am CD-Cover wird Kafka zitiert: ‚Das Entscheidende habe ich bisher nicht geschrieben.’ Ein Hinweis an den Zuhörer, dass es sich nicht um Musik handelt, die passiv konsumiert werden soll (kann), sondern um eine nüchterne, zugleich sehr poetische Herausforderung, selbst zu entscheiden, welchen der vielfältig geschlungenen (Klang)Pfade der/die ZuhöreIn für sich erobern möchte. Ähnlich wie in Cage’s ‚Williams Mix’, der die elektronische Musik in Europa (und nicht nur die elektronische) in ihrer Zerstrittenheit links liegen lässt und durch die überbordende Komposition (aus 600 Tonbandresten des Studios entsteht ein neues Stück, das in seiner Schnittgeschwindigkeit erst mal Ohrensausen auslöst) den Zuhörer zwingt, Stellung zu beziehen, eine positive Reaktion auf dieses kaleidoskopartige Chaos zu provozieren und den Hörer aktiv nach möglichen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Klangereignissen suchen zu lassen. Im totalen Kontrast zu Köln u.a. forciert `Williams Mix´ eine neue Kommunikationsebene durch (Ver-)Zerstörung traditioneller Hörgewohnheiten, ohne vorzugeben, eine alternative Ästhetik bereitzuhalten.
Bei Cage entsteht eine unglaubliche Dichte und Komplexität an unaufhörlichen Klangkaskaden (gelernter Komponist ist gelernter Komponist ist der hier beschreibende Komponist mit einem Augenzwinkern versucht zu sagen). Bei Vostell dagegen bricht sich in den kargen, genau gezirkelten Qualitäten dieser Klänge radikal und mit keinen falschen Orchestrierungsraffinessen besänftigt, der „einfache“ Urlaut Bahn, in seiner ganzen benommenen Schönheit. Gebremst, modelliert, klar zerlegt, das musikalische Skelett vollkommen abgenagt, in seiner Funktionalität klar ins Ohr stechend. Kein Vorbeikommen, kein Zögern, kein Triller, keine Einleitung, keine Durchführung, kein kunstvolles Stimmführen. Plötzlich posaunt Jericho, sind da Klänge, die einen Hinhorchsog provozieren, ist da ungemein konzentrierte, bis auf die Knochen entkleidete, enorm spannende Musik.
Die Aus-Einandersetzung (im Hinblick auf Vostell, dem "Décollagisten", ein wohl mehr als passender Ausdruck) hat erst begonnen …
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